Egmont 1949
Bevor es in Wetzlar die berühmten Wetzlarer Festspiele im Rosengärtchen gab, wurde auf dem Wetzlarer Kornmarkt Theater gespielt. Zum 100. Todestag Goethes 1932 und zu seinem 200. Geburtstag 1949 gab es in Wetzlar „Goethe-Festspiele“. Eine Geschichte hierzu erzählt Dr. Bergis Schmidt-Ehry:
Es war ein heißer Sommer und auf dem Kornmarkt war viel los. In den letzten Tagen waren sogar Zimmerleute da und bauten um den Brunnen herum eine Bühne auf. Auf der ansteigenden Fläche zur Lotteschule hin (heute Seniorentreff) wurden Stühle und Bänke aufgestellt. Der vierjährige Bub im Fenster des zweiten Stocks der Schmiedgasse Eins mit Blick auf den Kornmarkt hatte soviel Spannendes noch nicht erlebt. Und die Eltern erlaubten ihm auch abends noch, aus dem Eckfenster auf das Treiben zu schauen. Der Kornmarkt füllte sich mit Menschen. Unbeeindruckt von dem kurzen Gewitter, das Stühle, Bänke und Pflaster hatte nass werden lassen, wollten sie sich den Kunstgenuss der Darstellung des Egmont mit renommierten Schauspielern des Wiener Burgtheaters nicht entgehen lassen. Zum 200. Geburtstag des Dichters Johann Wolfgang von Goethe hatte Wetzlar Gäste aus aller Welt eingeladen und das Land Hessen hatte Bezugsscheine für 70 Zentner Lebensmittel an die Gaststätten in der Altstadt ausgegeben, damit diese ihre sonst nachkriegs-kärgliche Speisekarte für diese Gäste beachtlich ausweiten konnten. Man war also bester Stimmung und das Theaterstück konnte seinen Lauf nehmen. Voller Faszination und mucksmäuschenstill verfolgte unser Bub das Treiben der verkleideten Leute auf der Bühne unter ihm. Auch die Besucher verfolgten die Darbietung in gespannter Ruhe. Damals wurde noch sehr selten auf offener Bühne applaudiert – das hob man sich für die Pausen zwischen den Akten auf. Da wurde an diesem Abend dann umso anhaltender und enthusiastischer geklatscht. Brillierte doch der weltberühmte Paul Hartmann in der Rolle des Egmont. Es war still auf dem Kornmarkt, als der Herzog von Alba im fünften Akt den Degen von Egmont fordert und diesen entwaffnet. Beim folgenden Bühnenabgang Egmonts über die ausgetretene Treppe am Haus Schmiedgasse 1 hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Und da geschieht das Unglaubliche: Paul Hartmann stürzt und im Versuch sich aufzufangen, geraten seine Bewegungen zur Harlekinade und der kleine Bub über ihm glaubt, das sei Zirkus und prustet ein glockenhelles Lachen über den schweigsamen Kornmarkt. Es ist nicht überliefert, ob Paul Hartmann, der sich bei seinem Sturz zum Glück nur einen Muskelfaserriss am Bein zuzog, sich zu diesem Lachen geäußert hat. Und ich weiß nicht, ob er seine Rolle als Egmont noch zu Ende gespielt hat – denn ich durfte danach natürlich nicht mehr zuschauen.